Positionspapier

Positionspapier „Akzeptanzorientierte Jugendarbeit“: Arbeitspapier aller Projekte des Vereins Gemeinsam Ziele Erreichen e.V.

„Ode an die Menschlichkeit"

"Ich bin immer bereit zu lernen, aber nicht immer bereit, mich belehren zu lassen.“
(Oscar Wilde)


Einleitung
Im Rahmen sozialer Arbeit mit Jugendlichen haben es die Sozialarbeiter des Gemeinsam Ziele Erreichen e.V. mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten und „Gruppierungen“ zu tun.

Akzeptierende Jugendarbeit wurde vor allem für die Zielgruppen der drogengebrauchenden oder politisch motivierte Jugendlichen konzipiert, also für die Arbeit mit Jugendlichen, die sich am Rande oder im Bereich der Kriminalität bewegen.

Um eine Ausgrenzung dieser Zielgruppen zu vermeiden und diesen vermeintlich besonders bedürftigen Adressaten sozialer Arbeit diese auch zu gewährleisten, wurde der Begriff der akzeptierenden bzw. akzeptanzorientierten Jugendarbeit eingeführt. In der Praxis kam es jedoch immer wieder zu Vorfällen der Grenzüberschreitung, Vorwürfen der Identifizierung mit der Zielgruppe seitens der Sozialarbeiter wurden lauter. Wo also kann man die Grenze von Akzeptanz ziehen und wo ziehen wir, als Sozialarbeiter des Gemeinsam Ziele Erreichen e.V. diese?


Das Positionspapier umfasst folgende Projekte und Zielgruppen des Gemeinsam Ziele Erreichen e.V.
Schulsozialarbeit, mit den Adressaten Schüler der jeweiligen Schule

Streetwork, mit Jugendlichen aus den jeweiligen Einzugsgebieten, die ihre Freizeit auf öffentlichen Plätzen, Raum „Straße“ verbringen, vgl. SGB VIII

Im folgenden Text möchten wir theoretische Hintergründe für den methodischen Ansatz erläutern und damit unsere Position und Haltung der Akzeptanzorientierung in der Arbeit mit dem Klientel begründen.


Zur Entstehung und dem moralischen Aspekt des Ansatzes
Unsere Welt ist voller typisierter Menschenbilder: der „Rechte“, der „Moslem“, der „Drogenkonsument“, der „Spätaussiedler..., vor allem in den Medien werden bestimmten Gruppierungen vereinfacht Eigenschaften, Biographien, soziale Lage und Verhaltensweisen zugeschrieben. Dieses oberflächliche herunter Brechen von zum Teil irritierenden „Eigenschaften“ und dem Ausblenden der reellen Lebenswirklichkeit des Einzelnen verschleiert wahre Hintergründe und grenzt zugleich die beschriebenen Gruppenmitglieder in ihrer Gesamtheit aus.

Auch Sozialpädagogen und Mitarbeiter sozialer Institutionen neigen zu solchen Typisierungen und stülpen von vornherein ihrem „Fall“ stereotype Eigenschaften über, weil sie für vermeintlich ähnliche Fälle bedeutsam waren. Diese unprofessionelle Handlungsmethode klammert den Versuch aus, die komplexe Lebenswirklichkeit und das autonome Handeln der Person in dieser Wirklichkeit umfassend zu rekonstruieren.

Ohne den differenzierten Blick auf den Fall, lässt sich eine adäquate, begleitende und die Autonomie des Adressaten beachtende Hilfe nicht ausreichend installieren. Denn als Grundlage für professionelles Handeln in der sozialen Arbeit muss die Respektierung der Entscheidungs- und Handlungsautonomie des Adressaten sichergestellt werden. Eine Hilfe, die jenseits von Zwangsinterventionen, Bevormundung und Unterordnung abläuft, die durch reflexives Aushandeln mit dem Klienten über Weg, Richtung und Ziel des Problembearbeitungsprozesses glänzt, ist eine Hilfe, die die Mündigkeit und die Selbsthilfekräfte der Adressaten im Blickwinkel behält.

Dazu die Definition für professionelles Handeln von Prof. Dr. rer. pol. Dewe, Bernd u. a.:
„In einer solchen lebensweltorientierten Vorstellung von Professionalität geht es also darum, dass Sozialarbeiter und Sozialpädagogen unter administrativen Kontextbedingungen eine stellvertretende, in gewisser Hinsicht auch distanzierte Position gegenüber der Lebenspraxis der Klienten einnehmen und über einen `weiteren Wissens- und Deutungshorizont` verfügen als die Adressaten und die Klienten selbst, und dass das Bereitstellen und Einsetzen dieser erweiterten Sichtweisen im Berufsvollzug die Klienten befähigt, ihre- stets schon unterstellte- Selbständigkeit zu befördern oder wiederherzustellen (Dewe/ Ferchhoff/ Peters/ Stüwe: Professionalisierung. Kritik. Deutung. Soziale Dienste zwischen Verwissenschaftlichung und Wohlfahrtsstaatskrise, Frankfurt/ M., 1986).

Um die kontraproduktiven Asymmetrien, die zwischen den Akteuren in der Sozialarbeit (Sozialpädagoge, Klient) herrschen, abzuschaffen bzw. zu mindern und dadurch eine höhere Erreichbarkeit für das Klientel abzusichern bzw. wieder besser auf die Lebenswirklichkeit der Adressaten ausgerichtete Angebote installieren zu können, muss der Sozialpädagoge sich mehr für die Welt seiner Klienten öffnen. Dies beinhaltet die Erfahrung der Jugendlichen mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, aus denen meist ihre eigenen Probleme entstanden sind, ernst zu nehmen und trotz des administrativ formulierten Auftrag an die Sozialarbeit, gesellschaftliche Prozesse kritisch zu hinterfragen und zu reflektieren.
Aus diesen Gründen, wurden Ende der 70-iger Jahre neue Wege in der Jugend- und Szenenarbeit beschritten. Das Zauberwort hieß Akzeptierende Jugendarbeit bzw. Drogenarbeit und sollte bedarfsorientierter, lebensweltbezogener, mit hoher Erreichbarkeit und Wirksamkeit, die traditionelle Jugendarbeit kompensieren und ergänzen.

Trotz das die „Ideologie“ der akzeptierenden Arbeit in den Institutionen, Einrichtungen und sozialen Projekten angekommen ist, steht der Ansatz unter einem ständigen Generalverdacht.
Genauso kritisch seien die Betreuer und Sozialarbeiter zu betrachten, die diesen Ansatz all zu wörtlich nehmen. site ppd-centro.net

Unsere Jugend sucht Reibungsmöglichkeiten mit der Erwachsenenwelt und wir sollten uns in der Arbeit auch als Stellvertreter der Erwachsenenwelt verstehen. Durch „absolute“ Akzeptanz wird keine Entwicklung, keine Selbstfindung und keine Eigenverantwortlichkeit in Gang gesetzt. Nur der kritische Diskurs mit den Adressaten wird, neben der Achtung und Einbeziehung seiner Autonomie, Entwicklungen in Gang setzen können, die solche plakativen Schlagwörter wie „Selbstverwirklichung“, „Glück“ bzw. „Visionen“ überhaupt wieder in den Blickwinkel von Jugendlichen rückt. Treffend für diesen, eben auch distanzierten Arbeitsansatz, verdeutlicht das die Begrifflichkeit der „kritischen Sympathie“.
Jugend sucht, handelt, wird manipuliert, ist häufig demotiviert, steht sich auch selbst im Weg, ... und macht Fehler: Warum sollte man dies nicht akzeptieren können?

Akzeptanzorientierte Jugendarbeit will nichts anderes als den Respekt der Autonomie des Wesens, einfach die Möglichkeit des „Ja“ und „Nein“ sagen können durch den Klienten. Welcher „Helfer“ sich die Chance entgehen lässt, scheinbar fehlerhafte Entscheidungen mit dem Jugendlichen aufzuarbeiten, bloß weil wir unsere eigenes ebenso schwieriges Erwachsen werden vergessen haben oder unser Verständnis an Grenzen stößt, verpasst eine große Möglichkeit der Entwicklung des Jugendlichen in Richtung Mündigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Glück. Doch dazu bedarf es erst einmal das Wissen über solche zutiefst menschlichen Prozesse und die Akzeptanz von fehlerhaften Entscheidungen.


Wissenschaftliche Hintergründe
Nicht nur die Profession der Sozialpädagogen beschäftigt sich mit den Ursachen für bestimmte Handlungsweisen von Menschen, sondern auch ein ganzer Teilbereich der Psychologie. Sozialpsychologen untersuchen verschiedenste Theorien zum Thema Vorurteile, Selbstwert, Peergroups und Ausgrenzung. So erklärt z.B. die Theorie der sozialen Identität von Tajfel & Turner (1986), warum Binnengruppen-Solidarität gefördert und die Abwertung von Anderen auf der Grundlage von Prozessen des sozialen Vergleiches stattfindet. Wenn ein „Angriff von außen“ erfolgt, so beweisen Wagner & Zick (1990), löst dies im Allgemeinen ein manifestes Bewusstsein der Gruppenzugehörigkeit im Sinne eines gemeinsamen Schicksals aus.

Jeder Mensch hat das Bedürfnis sich seiner Identität, auch der sozialen, bewusst zu sein. Wenn man diese Aussagen auf die Arbeit der Sozialpädagogen mit dem Klientel, den Jugendlichen, überträgt, heißt das, dass man als Person mit seinen Argumenten und Äußerungen nicht als „Angriff von außen“ wahrgenommen werden darf, um mit ihnen arbeiten zu können. Die Asymmetrien zwischen Sozialpädagogen und Jugendlichen müssen aufgeweicht werden, um bestimmte Jugendgruppen (z.B. rechtsorientierte, drogen-konsumierende) zu erreichen und mit ihnen zu arbeiten. Anders ausgedrückt: akzeptierende Jugendarbeit steht ganz allgemein für die Forderung zu akzeptieren, dass „solche“ Jugendlichen Adressaten von Jugendarbeit sind. Die Akzeptanz des Gegensätzlichen ist als Ausgangspunkt von Einmischungs- und Veränderungsprozessen zu begreifen (Krafeld). Der Sozialpädagoge wird als Kommunikationspartner anerkannt und seine Argumente werden nicht von vornherein abgelehnt, sondern regen zum Nach- und Umdenken an.

Eine andere Theorie der Sozialpsychologie, die zur Erklärung herangezogen werden kann ist der Labelling-approach Ansatz. Einer Gruppe von Menschen, z.B. Jugendliche, wird ein bestimmtes Label bzw. Etikett, wie gewaltbereit, provozierend, abhängend, u.a. zuge-schrieben. Die Mitglieder der Gruppe erhalten alle das gleiche Label, ohne individuelle Unterscheidungen. Dies erzeugt bei ihnen das Gefühl, dass sie diesem Etikett nicht entkommen können und sie verhalten sich dementsprechend. Sie nehmen als Gruppe ihr Etikett an, in der Überzeugung, dass das Umfeld nichts anderes von ihnen erwartet.
Sozialpädagogen sollten diesen Kreislauf aufbrechen, denn die Ausgrenzung von bestimmten Jugendgruppen erscheint kontraproduktiv. Indem man auf die Gruppe zugeht, ihnen zuhört und sie einzeln als autonomes „Wesen“ wahrnimmt signalisiert man ein Interesse an den Menschen und Individuen der Gruppe, mit ihren ganz persönlichen Problemlagen. Und das primäre Aufgabengebiet von Sozialpädagogen sind die Probleme die das Klientel hat und nicht die, die es macht.

Auch aus soziologischer Sicht können verschiedene bekannte Ansätze, wie z.B. die Individualisierung der Gesellschaft, Ausdifferenzierung von Lebensstilen oder „Spaßgesellschaft“ zur Erklärung herangezogen werden. Die Verantwortung des Einzelnen für sein Lebenskonzept erhöht sich und damit der Druck der auf ihm lastet. Das Leben verläuft nicht mehr in geregelten Bahnen, sondern bedarf eigener Aktivität und bestimmter Leistungen. Wenn Jugendliche den Anforderungen nicht gewachsen sind, erfolgt der Rückzug und die Diskussion um die Schuld- bzw. Sündenbockfrage. Sie dann weiter auszugrenzen wäre dem Ansinnen von Sozialpädagogik nicht dienlich.

Peergroups stellen beim Aufwachsen der Jugendlichen einen wichtigen Ort der Entwicklung dar. Soziale Fertigkeiten werden hier erprobt und erlernt. Wenn der Sozialarbeiter im Gefüge der Gruppe akzeptiert wird, dann wird er auch als Gesprächs- und „Reibungspartner“ wahrgenommen. Akzeptanz bedeutet in dem Zusammenhang nicht die Vermischung von Einstellungen, sondern die ernsthafte Wahrnehmung des Anderen und den verschiedenen Meinungen.


Grenzen akzeptierender Jugendarbeit
„Wer sich auf die Realität einlässt, muss die beruhigende Eindeutigkeit aufgeben“
Die Haltung, den Jugendlichen als Person zu akzeptieren, aber nicht zwangsläufig das, was er tut, hat Grenzen. Die erste und wichtigste Grenze ist da, wo Jugendarbeit dazu benutzt werden soll, gezielt extremistische Bestrebungen zu fördern. Wenn andere in ihrer physischen und psychischen Unversehrtheit gefährdet sind, hat Jugendarbeit auf jeden Fall zu intervenieren und gegebenenfalls die Polizei einzuschalten. Jugendarbeit darf sich nicht instrumentalisieren lassen, zum Beispiel um anderen Jugendlichen deren Entfaltungsrechte und Ansprüche auf akzeptierte soziale Räume abzusprechen. Jugendarbeit stößt dort an deutliche Grenzen, wo Angebote für Zwecke genutzt werden sollen, die ethischen Grundsätzen widersprechen und wo ein deutliches Risiko besteht, dass sie zur Deckung oder zur Unterstützung von rechtswidrigen Handlungen benutzt wird.

Auch den PädagogInnen und deren Wertvorstellungen muss seitens der Jugendlichen Akzeptanz entgegengebracht werden-der akzeptanzorientierte Ansatz darf nicht zu Einbahnstraße verkommen. Vorraussetzung für eine gelingende Arbeit, nicht nur in diesem sensiblen Bereich, ist die nötige Balance zwischen Nähe und Distanz – die Beziehung zum Jugendlichen darf nicht auf eine Kumpelrolle reduziert sein. Auf personaler Ebene ist eine Grenze immer dann erreicht, wo man etwas nicht mehr aushalten kann (sei es aus Angst, Erschrecken oder Empörung). (vgl. Krafeld 2001)

Projektbezogen ist es wichtig, Vorraussetzungen zu schaffen, dass eine alternative Sozialisation von Jugendlichen im Rahmen der Projekte stattfinden kann. Dazu gehört die Auseinandersetzung der PädagogInnen mit der Zielgruppe, theoretischen Ansätzen, mit sich selbst und der Arbeit im Team. Alle Prozesse sollten ständig in verschiedenen Formen reflektiert werden, um Grenzen zu erkennen und um handlungsfähig zu bleiben. Andererseits ist es wichtig, dass finanzielle Mittel nicht nur für extreme Jugendliche zur Verfügung gestellt werden und dass es in den Kommunen genügend Alternativangebote für anders denkende Jugendliche gibt.

Jugendarbeit als einzige Maßnahme gegen Extremismus, Gewalt, Delinquenz, Drogenkonsum etc. macht wenig Sinn, sondern sollte in vernetzte Unterstützungsstrukturen eingebettet sein. (vgl. Korgel 2000)
„Gewiss, wer gegen Gewohnheit, Sitte, Norm zu handeln wagt, hat andere mehr oder weniger dem alten Rahmen nicht mehr entsprechende, also „verrückte“ Ansichten. Aber gerade dieses „Verrücken“ der Perspektiven bringt in vielen Fällen erst das notwendige neue und Andere zur Welt. Wenn wir heute sehr oft von den jungen Menschen sagen, sie seien verrückt, so ist das vielleicht gerade der Beweis dafür, dass sie gerade, weil sie so verrückt sind, auf einem richtigeren Weg sein könnten, als wir, die brav nach den uns vorgeschriebenen Signalen laufen, die immer nur in den „richtigen“, „geraden“ Straßen gehen.“

(Robert Jungk, 1969)

.